Zeitzeuge Gerhard Wiese berichtet über die Auschwitz-Prozesse der 60er Jahre
Im Herbst 2014 erschien der mehrfach ausgezeichnete Spielfilm „Im Labyrinth des Schweigens“ in den deutschen Kinos. Der Hauptdarsteller, Alexander Fehling, verkörpert darin den jungen Staatsanwalt Johann Radmann, der in den 60er Jahren mit der schweren Aufgabe betraut ist, die Ermittlungen gegen die SS-Besatzung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz zu führen.
Grundlage des Filmes sind vor allem die Erinnerungen von Gerhard Wiese, der ab 1962 als Staatsanwalt an den Auschwitz-Prozessen vor dem Langericht in Frankfurt/Main maßgeblich mitgewirkt hat. Und eben jener Gerhard Wiese, inzwischen 88 Jahre alt, kam am 21.09.2016 in die Carl-Bantzer-Schule, um Schülerinnen und Schülern der zehnten Klasse aus seinem Leben, vor allem aber von den Prozessen, zu berichten. Ermöglicht wurde der Besuch durch die Hessische Staatskanzlei, die ein Zeitzeugenprogramm mit dem Titel „Hessen erinnert sich“ ins Leben gerufen hat.
Gerhard Wiese berichtete zuerst über den erzwungenen Abbruch seiner Schulzeit, als er mit 16 Jahren zum Volkssturm eingezogen wurde und 1945 als Flak-Helfer Berlin vor der heranrückenden Roten Armee verteidigen musste. Er überlebte den Krieg sowie die russische Gefangenschaft und konnte 1948 mit dem Jurastudium an der FU-Berlin beginnen. Er wechselte nach Frankfurt, wo er Studium und Referendariat beendete. Seit 1961 war er in der Staatsanwaltschaft Frankfurt tätig und wurde 1962 vom Hessischen Generalstaatsanwalt, Fritz Bauer, in die Ermittlergruppe einberufen, welche die unfassbar schwere Aufgabe hatte, die Verantwortlichen des Vernichtungslagers Auschwitz auszuspüren und vor dem Landgericht in Frankfurt/Main anzuklagen.
Gerhard Wiese berichtete, unter welch schwierigen Bedingungen die Staatsanwälte arbeiten mussten – so standen ihnen nur wenige Telefone zur Verfügung. In der gesamten Staatsanwaltschaft gab es damals nur einen Fernschreiber. Präzise schilderte er, wie akribisch und detailversessen vorgegangen wurde. Dieses war notwendig, weil ein Täter nur dann angeklagt werden kann, wenn eindeutige Beweise gegen ihn vorliegen. So wurden nahezu 300 Zeugen aus allen Teilen der Welt eingeladen, um die Aussagen zu Protokoll zu nehmen.
Kein Geräusch war zu unter den 70 Zuhörern zu vernehmen, als Gerhard Wiese über die Ermittlungen gegen Adolf Eichmann (letzter Lagerkommandant von Auschwitz) und Josef Mengele (leitender Lagerarzt in Auschwitz, der grausame medizinische Experimente an den Lagerinsassen durchgeführt hatte) berichtete. Beide konnte er leider nicht vor ein deutsches Gericht stellen: Eichmann wurde vom israelischen Geheimdienst MOSSAD nach Israel entführt und Mengele gelang es in Argentinien und Paraguay unterzutauchen. Obwohl Gerhard Wiese bereits 88 Jahre alt ist, memorierte er alle Namen, Daten und Zusammenhänge ohne auch nur einen einzigen Stichwortzettel dabei zu haben.
Im letzten Teil seines Vortrages brillierte Wiese mit kleinen Anekdoten, wie er in die Produktion des Filmes „Im Labyrinth des Schweigens“ einbezogen wurde. Regisseur, Produzent und Hauptdarsteller interviewten ihn wiederholt, um einen möglichst authentischen Film herzustellen. Nicht ganz ohne Stolz berichte er, wie er in der letzten Szene des Filmes eine Statistenrolle erhalten hat.
Noch nie zuvor war ein solch hochkarätiger Zeitzeuge in der Carl-Bantzer-Schule anwesend, um seine Erlebnisse an ein Publikum weiterzugeben, das erst 40 Jahre später geboren wurde. Der Vortrag hinterlässt einen bleibenden Eindruck in der Schulgemeinde.
von: Heiner Schlußnus